Der Hades von Las Vegas

Freiheitsstatue in Las Vegas

Den Blick nach oben gerichtet stehst du nicht immer auf festem Grund. Drum blicke nach unten, worauf du gegründet, damit dich nicht unversehens die Unterwelt verschlinge.

Hades ist der mythologische Gott der Unterwelt und, um seine maßlose Herrschaft zu zementieren, nennt er sein Reich ebenfalls mit seinem Namen. Des Regenten Weib ist Persephone, und um die beiden zu besuchen, muss man einen Fluss überqueren, den Styx. Dafür entrichtet man selbstverständlich seinen Obulus. Am Ende der Welt führt dann eine Kluft in den Hades hinab. Dort wacht der Höllenhund Kerberos, verwehrt jedem Lebenden den Zutritt in das Totenreich und hindert jeden Toten, in die Oberwelt zurück zu kehren.

In der Oberwelt, dort herrscht ein gar lustiges Treiben und mancher Verstorbene würde sich wohl wünschen, doch noch einmal in das Reich der Lebenden zurück zu kehren. Dann würde er sicher in die Wüste Nevadas nach Las Vegas reisen, um verpasste Völlereien nachzuholen. Doch auch an diesem Ort muss man seinen Obulus entrichten - und dann geflissentlich übersehen, dass es auch hier eine ganz eigene Unterwelt gibt. Oder ist es eine Zwischenwelt? Denn die Lebenden wollen sie nach Möglichkeit übersehen, und die dort leben, sind noch nicht wirklich gestorben.

Im sagenhaften Las Vegas, der Welt des Glücksspiels mit seinen unzähligen Hotels, Casinos, Geldautomaten und Shows aller Art, begegnen sich im wahrsten Sinne des Wortes die Welten. Etwa vierzig Millionen Besucher 'aus aller Welt' werden Jahr für Jahr magnetisch angezogen. Elf Milliarden Dollar jährlich werden alleine in den Casinos umgesetzt. Von Glanz und Glamour sind die zur Schau gestellten surrealen Welten geprägt - und doch ist alles nur Pappmaché, Show, Künstlichkeit und Illusion.

Unter dem Ortsschild von Las Vegas wächst eine zweite surreale Stadt, die Stadt der unsichtbaren Obdachlosen. Zahllose Male wurde das Ortsschild versetzt, denn immer neue Casinos wuchsen aus dem Wüstensand. Der Stadtteil, in dem sich die Casinos befinden, nennt sich bezeichnenderweise 'Paradies'. Dunkel ist es, unter den Casinos im Paradies, kalt und feucht. Es riecht nach modriger Erde, Spinnweben hängen von der Decke, eine Ratte huscht davon im Kegel einer Taschenlampe.

Matthew O'Brien lebt seit Jahren in der Unterwelt von Las Vegas. Er hat ein Buch über das Leben dort geschrieben - 'Unter den Neonröhren' lautet sein Titel. Er erzählt, dass sich dort unten eine ganze Parallelgesellschaft aufhalte, Obdachlose, Räuber, Chunkies; Kriminelle, Geisteskranke und Poeten. Die Karrieren der Menschen sind alle ähnlich: Sucht, Knast, Obdachlosigkeit, dazu gesellt sich die Krankheit; Krankenversicherung gibt es keine im Paradies.

Die Menschen leben in einer Gegenwelt. Tagsüber schlafen sie, nachts streifen sie durch die Casinos und suchen nach Geld, das betrunkene Glücksspielgäste vergessen haben. Auch Wohnungsnot gibt es im Paradies. Die besten Plätze sind längst besetzt. Neuankömmlinge müssen immer tiefer ins Dunkle ziehen, wo es kein Licht gibt, wo tückische Gasansammlungen die Luft vergiften, wo es keinen Ausweg gibt, wenn die Flut aus der Kanalisation kommt.

Um das Essen müssen sich alle Obdachlosen selber kümmern. Der Stadtrat von Las Vegas hat vor Jahren die Ausgabe von Essen an Obdachlose in öffentlichen Parks verboten.

Sich als Tourist in diese Welt hinab zu begeben, dürfte wohl eher nicht ratsam sein. So kann ich nur den Blick nach oben richten und Ihnen ein Foto über der Erde anbieten. Die abgebildete Freiheitsstatue ist ebenso Pappmaché wie die Idee von Freiheit, für die sie steht. Und es bleibt die Frage: "Was ist das für eine Freiheit, deren Sockel auf der Not der Obdachlosen steht? Wie sicher mag solche Freiheit wohl gegründet sein?" Die Aufnahme wurde am 21. März 2007 gemacht.

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