Spiegelwelten

Betrachter von "Die Betrachter" von Peter von Tiesenhausen, Ecke Victoria/Queen Street, Toronto

Vorsicht, Kamera! Scheinbar betrachtet die Kamera den Betrachter, während der Betrachter die Kamera betrachtet. 

Tatsächlich aber betrachtet die Kamera eine Skulpturengruppe, während zugleich ein Einsatzfahrzeug dem Fahrzeug des Betrachters folgt.

Oder ist doch alles ganz anders und der eigentliche Betrachter versteckt sich hinter der Kamera, um von allen anderen Betrachtern nicht betrachtet zu werden?

Ein Spiegel offenbart uns die Welt, wie wir sie mit eigenen Augen niemals sehen können. Er offenbart uns Welten, wie sie unser Gegenüber sieht. Mit unserem Nebenmann teilen wir uns immerhin ein Stück unserer und seiner Weltsicht. Deshalb sind wir uns so vertraut. Wir lieben das Vertraute und scheuen, was uns nicht vertraut, was uns fremd ist.

Welche Sicht der Welten ist nun die richtige? Wenn es nach mir ginge, natürlich die meinige. Wenn es nach dir ginge, natürlich die deinige. Doch wer hat nun recht, du oder ich? Wessen Weltsicht ist die richtige, deine oder meine? An solch einfachen Fragen entzünden sich die Kriege der Welt, weil wir alle recht haben wollen. Wir beanspruchen, die Sicht der Welt durch unsere Augen sei die einzig richtige. Wir sind im Entweder-Oder-Denken gefangen: Wenn meins richtig ist, muss deins falsch sein!

Dabei gibt es so viele Weltanschauungen, wie es Lebewesen gibt. Wie interessant könnte es sein, die Welt einmal aus den Augen eines Frosches zu betrachten anstatt ihn tot zu treten oder ihm die Schenkel auszureißen. Vom Töten des Frosches ist es nur ein gradueller Schritt zum Töten des Nachbarn. Damit bewahren wir zwar unsere Sicht der Welt, aber wir versäumen eine wunderbare Gelegenheit, die Welt mit den Augen des Mitmenschen zu sehen.

Könnten wir doch als Mensch auf dieser Welt vom 'Entweder - Oder' zum 'Sowohl - Als auch' voranschreiten. Es wäre der größte Fort-Schritt, den die Menschheit überhaupt machen kann. Es wäre das Hinschreiten eines Geschöpfes zu seinen Mitgeschöpfen. Es wäre die Hinwendung vom Ich zum Du und es wäre die Selbsterkenntnis in der Welterkenntnis. Alle Ideologien könnten sich schlagartig in Nichts auflösen.

Vieles im Leben können wir nicht ändern. Unsere Sicht auf die Welt könnten wir ändern. Es wäre der Schlüssel zum Ändern unseres Denkens. Es wäre die Reise vom Ich zum Wir.

Die heutigen Gedanken stammen nicht von mir. Die Beobachter an einer Straßenecke in Toronto haben sie mir eingeflüstert. Sie beobachten ihre Welt in alle Richtungen. Sie werden nicht müde, sich zu erzählen, was sie noch so alles an interessanten Dingen sehen. Sie wissen, dass ihre Sicht nur eine Facette des Ganzen ist. Wenn dann alle Facetten zusammengetragen sind, sehen wir in der Welt der Spiegel dann auch noch unsere 'toten Punkte'.

Unsere Beobachter wissen es und künden davon. Warum vergessen wir selbst es so oft?

Die eine Wahrheit, die wir so gewaltig suchen, ist die Summe aller Wahrheiten, die sich in uns allen offenbart - einem jeden nach seiner Art und seinem Vermögen. Respektieren wir das und reifen wir daran. Lass uns Fremdes zu Vertrautem machen.

"Die Betrachter" von Peter von Tiesenhausen, Ecke Victoria/Queen Street, Toronto

Das heutige Bild des Tages wurde am 26. Juli 2011 aufgenommen.

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